Zeit für Agile Mutterschaft
Agile Mutterschaft stufen wir als alltagstauglichen Ansatz für (Nachwuchs-) Wissenschaftlerinnen ein. Silke von der Bruck, Gründerin von Agile Parenting, gibt uns im Gastbeitrag Impulse, wie wir mit agilen Methoden und einem agile Mindset im Alltag mit (Klein-)Kind(ern) besser leben. Ihr Beitrag ist eine Zusammenfassung ihres Impulsvortrags auf dem Mutterschaftlerin Retreat 2020.
Was bedeutet Agile Parenting?
Ich bin überzeugte Agilistin. Mit Agilen Vorgehensweisen zu arbeiten hat meine ganze Vorstellung davon, wie Menschen ticken, verändert. Als wir unser erste Kind bekommen haben, sind wir ziemlich blauäugig an die Sache herangegangen und dachten, das würde schon werden.
Doch es kam anders! Unser großes Kind ist sehr anspruchsvoll und hat uns gleich zu Beginn unser Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Und in unseren Bemühungen, damit umzugehen, habe ich irgendwann festgestellt, dass die Werte und Prinzipien des Agilen Arbeitens sich auch wunderbar auf den Umgang mit Kindern übertragen lassen. Und so entstand Agile Parenting, über das ich auf meinem Blog schreibe.
Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Agile Parenting bedeutet nicht, irgendwelche Methoden auf seine Kinder anzuwenden. Es gibt zwar viele Agile Methoden, die ich sehr wertvoll finde und die auch in unserer Familie ihren Platz haben, z.B. unser Familienboard oder regelmäßige Retrospektiven, die bei uns Einzug gehalten haben.
Der Kern von Agile Parenting besteht jedoch vor allen Dingen darin, geleitet von Werten und Prinzipien, die sich am Agilen Manifest orientieren, zu handeln. Genauso, wie sich für mich Agiles Arbeiten vor allem durch die Prinzipien und Werte des Agilen Manifests definiert.
Mit zwei Kindern wurde es kompliziert
Familienorganisation ist für viele Eltern ein wichtiges Thema.
Mit unserem ersten Kind haben wir uns noch irgendwie organisiert bekommen, ohne dass wir groß geplant hätten. Aber mit dem zweiten Kind ging das dann nicht mehr. Wir sind regelrecht im Chaos versunken.
Aber als Agile Eltern sind wir natürlich anpassungsfähig und haben uns auf die neue Situation eingestellt. Und das sind unsere Top-Hilfsmittel und -Methoden:
Visualisieren!
Wie im Projektmanagement auch, ist es hilfreich, wenn man große Mengen an Aufgaben visualisiert, um sie irgendwie koordinieren und nachverfolgen zu können. Dafür hat sich bei uns ein System mehrerer Detailstufen entwickelt, jedes Tool mit einem eigenen Zweck.
1. Familien-Kalender – grobe Übersicht
Die gröbste Detailstufe ist unser Familien-Kalender. Der hängt bei uns gut sichtbar gegenüber vom Esstisch (direkt über unserem Wochenplan). Es ist ein einfacher DINA3-Kalender für das ganze Jahr. Dort tragen wir mit Farbcode für jedes Familienmitglied die wichtigen aufwändigen Termine ein, z.B. die KiTa-Ferien, unsere Urlaube, wenn einer von uns Elternteilen einen Workshop hält, Kinderarzt-Termine usw.
Das sind häufig Termine, die etwas Vorlauf benötigen und an denen beide Elternteile eingebunden sind, mindestens um die Notbetreuung der Kinder zu übernehmen (oder in einer verdammten Pandemie überhaupt die Betreuung), damit der andere Elternteil seinen Termin wahrnehmen kann. Dieser Kalender und unsere diversen anderen privaten und beruflichen Kalender sind die Datengrundlage für unseren wöchentlichen Familienplan.
2. Wochenplan Familie – Detailplanung für die Familie
Einmal in der Woche am Sonntag Abend setzen wir Eltern uns zusammen und schauen, welche Termine in der Woche anstehen (von denen wir wissen), welche Dinge sonst noch so anstehen (wie z.B. Mülltonnen rausstellen). Wir planen mittlerweile auch am Sonntag möglichst schon die Mittagessen und wer wann kocht. Und wir legen fest, wer wann die Kinder zur KiTa bringt oder abholt (oder im Pandemiemodus, wer wann die Kinder betreut).
In den Zeiten, als man am Wochenende noch Dinge unternehmen konnte, haben wir freitags noch ein kurzes Update unseres Plans mit unseren Wochenendplänen gemacht. Das hat sich aktuell durch die Pandemie fast erübrigt.
Das Board hängt bei uns unter dem Familienkalender, so dass es auch vom Esstisch aus sichtbar ist. Oben sind alle 7 Tage aufgezählt, links die Zeiteinheiten: 6-12h, 12-14h, 14-18h, 18-20h, 20-22h, ungefähr so wie auch unser Arbeitstag getaktet ist.
Wir haben einen Farbcode für die Post-Its: Blau bin ich, Lila sind die Kinder, normal Post-It-gelb mein Partner und Hellgrün alles, was für Agile Parenting anfällt. Sachen, die wir alle gemeinsam oder wir Eltern gemeinsam machen, sind Pink. Man könnte jetzt natürlich alle möglichen Kombinationen anders codieren, aber darum geht es ja überhaupt nicht. Wichtig ist, dass es für unsere Familie übersichtlich ist.
Für mich ist dieses Board so ein großartiges Tool, das einerseits super einfach ist, aber auch extrem hilfreich, um das Chaos einer vierköpfigen Familie im Zaum zu halten. Die Planung dauert je nachdem wie viel zu diskutieren ist, 10 Minuten bis maximal 30 (wenn wirklich viel los ist).
3. Berufliche Wochenplanung
Die dritte Planungsstufe ist dann nur noch für mich persönlich, nämlich für meine berufliche Planung. Ich bin mittlerweile durch die jahrelange Arbeit in Agilen Teams so sehr daran gewöhnt, meine Arbeit mit einem Board zu strukturieren, dass ich mich damit am wohlsten fühle. Mit dem Input aus dem Familien-Plan lege ich meine Arbeitszeiten für die Woche fest. Dann schaue ich noch einmal, welche Termine anstehen und welche Aufgaben erledigt werden müssen. Auch hier sind meine Zettel farbcodiert: blau sind private Termine und für meine Angestelltentätigkeit, grün steht für meine Tätigkeiten für Agile Parenting.
Aufgaben schätze ich grob in Stunden ab und schreibe dies auf jeden Zettel auf, damit ich nicht dazu tendiere, meine Tage zu voll zu packen. Die kleinste Einheit ist 0,5 Stunden für kurze Aufgaben (wie Mails beantworten) und die längste Einheit liegt bei mir bei 3 Stunden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mich ohnehin nicht mehr als 3 Stunden am Stück so sehr konzentrieren kann. Daher ist es sinvoll, solche Tätigkeiten aufzuteilen. Ich setze mir in der Regel ein Wochenziel, auf das ich hin arbeiten will. Das hilft mir bei der Re-Priorisierung, falls ich merke, ich schaffe nicht alles, was ich mir vorgenommen habe. Termine versuche ich an die Randzeiten zu legen, also gleich morgens am Anfang meines Arbeitstags oder kurz vor oder nach einer Pause. Dadurch muss ich nicht so oft den Kontext wechseln, was mich jedes Mal Zeit zum Umdenken kosten würde.
Ich versuche auch, meine Aufgaben je nach absehbarer Tagesform zu verteilen. Wenn ich z.B. etwas tue, das über längere Zeit meine volle Konzentration braucht, nehme ich mir für danach eher etwas leichtes vor, das nicht ganz so viel Konzentration erfordert und kürzer ist.
Da sich bei mir sehr schnell Papierstapel auf dem Schreibtisch bilden, nehme ich mir zu Beginn meines Arbeitstages immer 5 Minuten, um ein paar Sachen aufzuräumen, damit es nicht überhand nimmt. Damit komme ich nicht immer vollständig hinterher, aber ich weiß, dass ich mich davor drücken würde, wenn es länger angesetzt wäre. Da muss ich mit meinem inneren Schweinehund zusammenarbeiten.
Inspect & adapt
Die verschiedenen Boards sind die Hilfsmittel, die uns dabei helfen, den Überblick zu behalten. Zusätzlich haben wir Feedbackschleifen eingeführt, um unser System immer wieder anzupassen und zu verbessern.
Aktuell machen wir jeden Wochentag ein Daily (Standup), um zu besprechen, welche Änderungen sich bei uns ergeben haben und passen unseren Wochenplan entsprechend an. Das ist notwendig, weil sich aktuell auch ganz viele Dinge sehr kurzfristig ändern. Das Daily dauert so ca. 5 Minuten nach dem Abendessen. Samstags machen wir eine Retro über die vergangene Woche, um ggf. noch Verbesserungen in unseren Abläufen zu finden.
Da unsere Kinder noch sehr jung sind bzw. das große Kind Familienkonferenzen noch verweigert, machen wir Eltern diese ganze Planung aktuell nur für uns. Mit etwas größeren Kindern würde ich auf jeden Fall die Kinder mit einbeziehen und auch mit mehr Piktogrammen arbeiten, damit auch die Kinder, die noch nicht lesen können, trotzdem wissen, was gemeint ist.
Working agreements
Damit unser Alltag möglichst reibungslos läuft, haben wir uns auch noch auf eine Handvoll Working Agreements geeinigt.
Gleich die erste Vereinbarung ist auch die wichtigste von allen und ist angelehnt an die Prime Directive für Team-Retrospektiven von Norman L. Kerth:
„Wir sind davon überzeugt, dass jedes Familienmitglied unter den gegebenen Voraussetzungen (Wissen, Ressourcen, individuelle Fähigkeiten, äußere Umstände) sein bestes gegeben hat!“
Dieses Prinzip ist eigentlich immer hilfreich in einer Familie, in stressigen Zeiten aber ganz besonders. Es werden Dinge schief laufen, wir werden Fehler machen, die Kinder werden nicht alles einfach so mitmachen. Und das ist ok. Wir geben alle unser bestes und unterstellen auch den anderen Mitgliedern unserer Familie, dass sie ihr bestes geben.
Der zweite Punkt, Respekt vor der Zeit des anderen, dreht sich um unsere Arbeitsaufteilung: Wir haben uns im Wochenplan auf Arbeitszeiten und Betreuungszeiten für die Kinder geeinigt und wollen erstens sicherstellen, dass wir so pünktlich aufhören, dasss die andere Person pünktlich mit ihrer Arbeit starten kann. Zusätzlich versuchen wir Störungen in der Arbeitszeit der jeweils anderen Person zu vermeiden, so dass sie möglichst effektiv arbeiten kann in der Zeit.
Der letzte Punkt, Büro benutzbar hinterlassen, liegt an unserer räumlichen Ausstattung: Wir teilen uns ein Arbeitszimmer und haben uns darauf geeinigt, den Schreibtisch so zu hinterlassen dass die andere Person direkt loslegen kann und nicht erst aufräumen muss. Vielleicht klingt das selbtsverständlich. Für uns war es wichtig, das explizit zu machen, weil es bedeutet, 5 Minuten früher fertig zu werden, um noch kurz aufräumen zu können.
Auch die Working Agreements unterliegen regelmäßigen Änderungen. Wenn wir merken, wir brauchen andere Vereinbarungen, dann passen wir sie eben an. Sie sind ja keine ewigen Gesetze, sondern sollen uns dabei helfen, uns besser zu organisieren.
Das wichtigste: Entlastung schaffen
Im Familienkontext gibt es grob zwei Stoßrichtungen, um Überlastung entgegen zu wirken. Alles Überflüssige streichen oder Arbeit gerecht verteilen. Am besten kombinieren wir beides. Aber wo setzen wir an?
Überflüssiges streichen und Effizienz steigern
Agile Produktentwicklung macht Teams deshalb schneller, weil unnötiges und unwichtiges weggelassen wird. Es wird mit gezielter Reduktion gearbeitet.
Manche Menschen glauben immer noch, dass durch Agile Vorgehensweisen, die Leute plötzlich schneller arbeiten. Was für ein Quatsch! Abgesehen von der fiesen Unterstellung, die Menschen würden nicht das meiste aus dem rausholen, was sie tun. Es gibt einfach natürliche Grenzen. Und die Schnelligkeit der Agilen Vorgehensweisen kommt eben vom gezielten Weglassen, vom Unterscheiden, was wichtig ist und was nicht.
Die Methoden, die ich beschrieben habe, zielen vor allem auf dieses Ziel in der Familie ab: Transparenz schaffen, Alltag erleichtern, ggf. Dinge weglassen, die nicht notwendig sind.
Das ist meiner Meinung nach der „leichte“ Teil, mit dem du immer noch mit dem vorhandenen System arbeitest und versuchst, das beste aus dem bestehenden System rauszuholen.
Arbeit gerechter verteilen
Aber was ist, wenn das alles nicht reicht?
Damit bist du übrigens nicht allein, es geht vor allem Müttern in erschreckender Anzahl so. Und das liegt am so genannten Mental Load. Eine ausführliche Erläuterung zum Mental Load würde hier den Rahmen sprengen. Nur so viel dazu: Die Kleinfamilie mit 1-2 Elternteilen, die sich allein um eines oder mehr Kinder kümmern, ist ein noch relativ junges Konstrukt. Du kennst vielleicht die Redewendung „Es braucht ein Dorf, um Kinder großzuziehen“.
Es ist von der Arbeitslast her nicht einfach so machbar, dass alles, was rund um Kinder zu tun ist, auf einem bis zwei Paar Schultern lastet. Auch unsere Großeltern haben das damals nicht besser hinbekommen, die hatten einfach mehr gegenseitige Unterstützung. Wenn du dir die vielen kleinen Dinge, die du rund um die Kinder organisierst, mal verdeutlichst, wirst du merken, wie viel Aufwand und Anstrengung das am Ende des Tages doch kostet und du deshalb scheinbar nichts mehr schaffst.
- Kleidergrößen der Kinder im Kopf behalten
- Feststellen, wann neue Klamotten gekauft werden müssen
- Elternabende
- Arzttermine
- Impfungen
- Verabredungen mit anderen Kindern
- Verpflegung zum Mitnehmen
- Wäscheberge
- Windeln besorgen
- ...
Wenn du jetzt ganz ehrlich mit dir selbst bist: Wer übernimmt die meisten dieser Orga-Tätigkeiten bei euch?
In der Regel sind das die Mütter. Selbst wenn die Väter beteiligt sind, müssen sie oft erinnert werden. Und genau das ist, was sich Mental Load nennt. Diese innere ToDo-Liste, die nie ein Ende nimmt. (Sehr erhellend dazu dieses (nicht ganz ernst gemeinte) Video.)
Eine gute Nachricht habe ich dazu: Das lässt sich lösen! Wenn du deine:n Partner:in in die Pflicht nimmst. Die Autorin Patricia Cammarata hat eine hilfreiche Anleitung geschrieben, wie man es schaffen kann, die Aufgaben rund um Haushalt und Kinder besser aufzuteilen.
Die schlechte Nachricht: Den meisten Vätern ist gar nicht bewusst, wie viel Aufwand sich hinter dem Mental Load verbirgt. Und wie anstrengend es ist, das alles im Blick zu behalten. Und dass das nicht alles durch „Mutterliebe“ abgedeckt wird. Da hilft nur Transparenz und beharrliches Aushandeln.
Ich bin da selbst noch nicht am Ziel angekommen, aber zumindest schon sehr nah dran.
Für eine nachhaltige Entlastung braucht es beides: Einerseits zu schauen, wo man sich besser organisieren kann bzw. Überflüssiges streichen kann und andererseits zu schauen, wo man als Elternpaar eine gerechtere Aufteilung schaffen kann. Nur so ist langfristig sichergestellt, dass nicht irgendwann die eigene Gesundheit unter der Dauerbelastung gefährdet wird.
Die Autorin:
Silke von der Bruck beschäftigt sich seit 10 Jahren mit Agilen Vorgehensweisen und ist Gründerin von Agile Parenting. Sie hat 2 Kinder und wendet viele Methoden aus der Agilen Produktentwicklung in ihrem Familienalltag an.
Wie kannst du mit Deep Work deinem Traum näher kommen? Das und noch mehr lernst du in unseren Impulsen.